Krieg in Syrien: Wovon syrische Geflüchtete träumen (2024)

Reyhanlı ist einer dieser Orte, die gerade noch sicher sind. Wenige Meter weiter beginnt schon der Krieg. Die Stadt liegt im Süden der Türkei, direkt an der Grenze zu Syrien. Dieses vom Bürgerkrieg aufgezehrte Land, das seit 2011 nicht zur Ruhe kommt, wo seit 13 Jahren Menschen sterben, Angst haben, fliehen.

Seit Beginn des Krieges sind mehr als 14 Millionen Syrerinnen und Syrer aus ihrer Heimat geflüchtet, die meisten von ihnen hat das Nachbarland Türkei aufgenommen. Die Vereinten Nationen bezeichnen den Exodus als »die größte Flüchtlingskrise der Welt«.

Eine Krise, die, je länger der Konflikt dauert, je mehr neue Krisen und Kriege weltweit dazukommen, immer weiter in Vergessenheit gerät. Der Journalist Pablo Medina und der Fotograf Edu León wollten das ändern; sie reisten in die Türkei, um den Fokus auf die syrischen Geflüchteten zu richten. Wie geht es den Menschen vor Ort? Wie gestalten sie ihre Zukunft?

Sie besuchten das türkische Reyhanlı. Dort wohnen sehr viele, die es aus ihrer syrischen Heimat in Sicherheit geschafft haben. Von den dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlingen, die in der Türkei leben, haben sich 150.000 in Reyhanlı niedergelassen. Die Einwohnerzahl des Ortes hat sich verdoppelt.

Medina und León verbrachten im vergangenen April viel Zeit in einem Flüchtlingslager am Rand der Stadt, »wenn man das überhaupt als Flüchtlingscamp bezeichnen kann«, sagt Medina. Es sei wie ein Dorf aus Zelten, mit offenen Kochstellen und rudimentär zusammengebauten Hütten, das über die Jahre gewachsen sei. Hilfsorganisationen kämen kaum vorbei. Ungefähr 35 Familien lebten dort, manche seit Jahren, andere seien erst vor Kurzem über die Grenze gekommen: für viel Geld oft über illegale Tunnel, mithilfe von Schleusern.

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Denn Syrien zu verlassen ist fast unmöglich geworden. Im Zuge des EU-Flüchtlingsdeals hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Grenzen abgeriegelt. Der Landweg ist geschlossen, es kommen von der Türkei Richtung Syrien nicht mal mehr Hilfslieferungen ungehindert durch. Entlang der 900 Kilometer Grenzlinie zwischen der Türkei und Syrien steht inzwischen in weiten Teilen eine massive Mauer aus Beton, mit Stacheldraht und Wachtürmen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der Türkei vor, Geflüchtete illegal in den Norden Syriens abzuschieben. Erdoğan bezeichnet diese Gegenden als »sichere Zonen« innerhalb des Kriegslandes. All das treibt die Menschen, die es über die Grenze in die Türkei schaffen wollen, in die Hände von Schleusern und damit oft in die Schulden, weil diese hohe Summen für ihre Dienste verlangen. Es gibt Berichte über Menschenhandel und Kinderarbeit.

Die Journalisten Medina und León trafen in Reyhanlı Syrer, die im Krieg verwundet wurden und nun auf türkischer Seite von Landsleuten verarztet werden. Das Haus, in dem die Verwundeten Hilfe bekommen, wird betrieben von Syrern, die sich medizinische Fähigkeiten angeeignet haben. Mit der Reparatur von Handys verdienen sie Geld, um Verbandmaterial und Medikamente zu kaufen.

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Die Geflüchteten seien froh, wenn sich jemand für ihre Geschichte interessiere, wenn sie sprechen könnten. Sie akzeptierten, so Medina, ihr neues Leben in der Türkei; dort seien sie zwar viel ärmer als in Syrien vor dem Krieg, aber immerhin halbwegs sicher.

Mütter und Väter legen ihre Hoffnung in ihre Kinder. Sie haben, so Medina, keine andere Wahl, als nach vorn zu blicken und die Schrecken von Flucht, Vertreibung, Zerstörung hinter sich zu lassen. Die Eltern kümmern sich, dass ihre Söhne und Töchter eine gute Ausbildung erhalten, in der lokalen Schule viel lernen. »Die Kinder sind eng verbunden mit der westlichen Kultur, über Instagram und Fußball. Viele wollen einmal in Europa studieren«, sagt Medina.

Nur wenige Syrerinnen und Syrer in Reyhanlı finden einen angemessen bezahlten Job. Viele sind arbeitslos. 90 Prozent der Geflüchteten leben in der Türkei unterhalb der Armutsgrenze, sind ein leichtes Ziel für Ausbeutung. Sie arbeiten als Erntehelfer zehn Stunden am Tag auf den Feldern, oft für Hungerlöhne. Lebenshaltungskosten in der Türkei – Essen und Strom – sind in den vergangenen Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Die syrischen Familien verschulden sich, um zu überleben.

Medina und Léon kamen während ihrer Recherche bei Safaa unter, einer alleinerziehenden Mutter von vier Kindern, die in einer kleinen Wohnung in Reyhanlı wohnt. »Die Familie ist sehr arm, aber unglaublich gastfreundlich«, so Medina. Safaa habe ihnen Brot mit Olivenöl und der Gewürzmischung Zatar serviert, Früchte und Gemüse. »An guten Tagen leistet sich die Familie ein Huhn, das Safaa mit einem Rezept aus der syrischen Stadt Aleppo zubereitet. Hühnerfleisch ist zu einem Luxusgut geworden, es ist teuer.«

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Man kann die Geschichte der syrischen Geflüchteten in Reyhanlı nicht erzählen, ohne die beiden Erdbeben zu erwähnen, die sich in der Region vor gut einem Jahr ereigneten: Allein auf türkischem Boden starben fast 60.000 Menschen. Die Katastrophe traf elf Provinzen mit einer Bevölkerung von 14 Millionen Menschen und ereignete sich auch dort, wo besonders viele Geflüchtete leben.

Die Erdbeben haben die Not noch verschlimmert. Sie triggerten alte Ängste der syrischen Geflüchteten, Kinder lernten, dass sie auch im neuen Zuhause nicht sicher sind. Weil auch unter der lokalen türkischen Bevölkerung das Leben nach der Katastrophe schwer ist, sinkt die Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten. Rassismus und Angriffe auf die syrische Community nehmen zu. Das haben die Menschen vor Ort auch Pablo Medina erzählt. »Die lokalen Stadtbewohner blicken auf die Syrer hinab«, so Medina.

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Wie schaffen es die Menschen aus Syrien, dennoch durchzuhalten? »Syrerinnen und Syrer haben eine große Resilienz. Sie sind zufrieden, wenn sie ihre Familien und Freunde um sich haben und mit ihnen Tee trinken. Ich denke, sie haben sich das antrainiert. Und auch der Glaube gibt ihnen Halt«, sagt Pablo Medina.

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Es gebe, so Medina, einen Traum, den die Geflüchteten aus Syrien immer noch träumten, an dem sie sich festhielten: dass sie irgendwann zurückkönnten. Und dass sie dann endlich in Syrien nicht mehr der Krieg erwarte, sondern die Freiheit.

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